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Anna wünscht sich etwas

Anna schiebt den Vorhang ihres Fensters zur Seite. Von hier aus kann sie in Leonies Garten schauen. "Sieh mal, Linda", sagt sie zu ihrer neuen Lieblingspuppe. "Ich kann sogar den Kaninchenstall sehen. Nur noch drei Wochen, dann darf ich ein Junges zu mir nehmen".

Leonies Papa hat versprochen, auch in ihrem Garten einen Kaninchenstall zu bauen. Anna seufzt. Wenn sie einen eigenen Vater hätte, würde er das machen, und sie könnte noch andere Tiere haben. Einen Hund und Katzen und vielleicht auch noch Meerschweinchen. Aber ihr Papa ist jetzt im Himmel und kann deshalb keinen Stall bauen. Anna kann sich gar nicht mehr an ihn erinnern. Mama sagt, dass er sie sehr lieb gehabt hat.

"Ich wünsche mir so sehr einen Papa", sagt sie leise zu Linda. "Einen, mit dem wir Ausflüge machen können, in die Berge und ans Meer fahren. Und der Mama hilft, dass sie nicht so viel arbeiten muss. Und er soll lustig sein und gerne spielen."

Plötzlich hat Anna eine Idee. Leonie hat doch dem Osterhasen einen Brief geschrieben und sich viele Sachen gewünscht. Und alle ihre Wünsche sind erfüllt worden.

"An wen könnte ich einen Brief schreiben? Ostern ist doch schon vorbei. Ans Christkind? Aber Weihnachten kommt erst im Winter. Das dauert zu lange."

Dann fällt ihr Tom ein. Tom geht in die gleiche Kindergartengruppe wie Anna. Vor einigen Tagen hat er allen Kindern seine Zahnlücke und eine wertvolle goldene Münze gezeigt. Die hat ihm die Zahnfee geschenkt, hat er gesagt. Seine Eltern kommen aus Amerika und dort erhalten alle Kinder eine Münze, wenn sie den ersten Milchzahn, der ihnen ausfällt unter ihren Kopfpolster legen. Tom hat seinen Wackelzahn verloren, als er in einen Apfel biss. In der Nacht, als er tief und fest geschlafen hat, hat die Fee den Zahn gegen das Goldstück ausgetauscht.

Anna tastet mit der Zunge an ihren Zähnen. Wackelt da nicht ein Vorderzahn seit ein paar Tagen ganz leicht? Sie überlegt, ob sie sich von der Zahnfee vielleicht einen Papa wünschen könnte anstatt einer Goldmünze. Den kann die Zahnfee natürlich nicht unter ihren Kopfpolster legen. Der müsste einfach zur Tür hereinkommen. Oder ihre Mama könnte ihn zufällig beim Einkaufen oder in der Arbeit treffen.

"Weißt du was, Linda? Ich mach's wie Leonie. Ich schreibe der Zahnfee einen Brief."

Linda nickt. So wie immer, wenn Anna ihr etwas vorschlägt. 

 

Anna nimmt ihre Glitzerstifte und ein Blatt Papier und schreibt ihren Wunsch auf. 

Liebe 🧚‍♀️ ich wünsche mir einen lustigen und liben Papa. Bitte bring ihn mir schnel. 

 

Das Wort Zahnfee kann Anna noch nicht schreiben. Darum zeichnet sie eine Fee aufs Papier. Dann faltet sie das Blatt und versteckt es in einem Bilderbuch, damit es ihre Mama nicht findet. Wenn der Zahn ausgefallen ist, wird sie ihn mitsamt dem Brief unter ihren Kopfpolster legen.

 

Gutgelaunt schnappt sie Linda und springt die Stiegen in den Flur hinunter. Ihre Mama muss heute nicht im Gasthaus arbeiten. Sie steht in der Küche und stopft Äpfel und Birnen in den großen Mixer, weil sie Lust auf frischen Fruchtsaft hat.

„Oh, Mama hat viele Äpfel gekauft. Das trifft sich gut“. Sie steckt sich ein Apfelstück in den Mund und fragt, während sie kaut: "Kann ich zu Leonie gehen?"

Ihre Mama nickt und drückt ihr zwei Apfel in die Hand. "Nimm die mit. Einer ist für Leonie. Aber verfüttert sie nicht an die Kaninchen, sondern esst sie selbst. Ich komme nach, wenn ich hier fertig bin." 

Während Anna in den Garten läuft, macht sie extra große Bissen vom Apfel. Dann schlüpft sie zwischen zwei Rosenbüschen durch, die wie ein Torbogen geschnitten sind. Das haben die Erwachsenen so gemacht, damit die Kinder schnell von einem Garten in den anderen gelangen.

 

Willi, Leonie und ihre Mama sind im Garten. Willi hilft seiner Mutter beim Gießen. Leonie sitzt neben dem Kaninchenstall und schaut zu, wie sich die Jungen an Stupsi kuscheln und trinken.

"Magst du einen Apfel?", fragt Anna.

"Nein, ich nicht, aber Stupsi“, antwortet Leonie.

"Dann teile ich ihn mit ihr", sagt Anna. Sie beißt ein großes Stück ab und legt es in den Stall.

In dem Moment läutet es an der vorderen Gartentür. 

"Wer ist das?", fragt Leonie. 

"Das werden wir gleich sehen", antwortet Mama. Sie stellt die Gießkanne weg und geht zur Tür.

Ein Mann steht davor mit einem Zettel in der Hand. 

"Guten Tag, sind Sie Frau Winter?", erkundigt sich der Mann.

"Ja".

"Ich bin Boris Lebedew. Ich habe gestern diesen Zettel in einem Geschäft gesehen und wollte nachschauen, ob Ihnen mein Kaninchen zugelaufen ist."

Leonie drückt sich eng an ihre Mama und zieht sie zu sich herunter, damit sie ihr etwas ins Ohr flüstern kann. "Mama, sag ihm, dass wir das Kaninchen nicht mehr haben."

Mama schiebt sie sanft zur Seite. "Leonie, jetzt warte doch mal ab." Dann wendet sie sich wieder dem Mann zu und öffnet die Gartentür, damit er eintreten kann.

Der Mann und Mama gehen am Haus vorbei in den hinteren Garten. Leonie hat Tränen in den Augen. Sie will Stupsi behalten und die Jungen auch. Weil Leonie so traurig aussieht, nimmt Anna sie an der Hand. Auch sie will die Kaninchen behalten. 

 

"Oh! Sie haben so einen schönen Stall für meine Diana gebaut", ruft der Mann aus. 

"Ja, als das Kaninchen plötzlich in unserem Garten gesessen ist, mussten wir doch etwas tun. Wir haben zuerst in der Nachbarschaft nachgefragt. Aber es gehörte niemandem. Danach habe ich in einigen Geschäften in der Nähe diese Zettel aufgehängt. Weil sich niemand gemeldet hat, haben wir ihm einen Stall gebaut und es einstweilen versorgt."

"Da bin ich aber froh, dass Sie so gut für meine Diana gesorgt haben", sagt der Mann.

"Sie heißt nicht Diana, sondern Stupsi", schluchzt Leonie.

"Ah, Stupsi hast du sie genannt. Das ist auch ein schöner Name“.

Anna sieht den Mann von der Seite an und fühlt mit der Zunge ihren Wackelzahn. Der wackelt schon ein wenig stärker als vorher.

 

 

 

"Nimmst du sie jetzt mit?", fragt Leonie leise.

Der Mann sieht drei Kinder mit traurigen Gesichtern vor sich.

"Hmm, sie lebt nun schon so viele Tage bei euch. Und ihr habt sie sicher sehr gern."

Alle Drei nicken mit gesenkten Köpfen. 

"Wir haben den Jungen auch Namen gegeben", sagt Anna. 

"Soso, die haben auch schon Namen. Dann kann ich sie euch wohl nicht wieder wegnehmen, oder?"

Leonie reißt die Augen auf. "Wirklich? Dürfen wie sie behalten? Alle?"

"Eigentlich bin ich ja hergekommen, um mein Kaninchen nach Hause zu bringen. Aber jetzt glaube ich, dass es besser ist, wenn es hier bei euch bleibt. Wenn eure Mama nichts dagegen hat, dürft ihr sie behalten."

Leonie zappelt aufgeregt auf und ab und zupft heftig an Mamas Bluse. "Sag ja, biiitte!"

Mama streichelt über Leonies Haar. "Von mir aus dürft ihr sie behalten." 

Und zu dem Mann sagt sie: "Das ist wirklich sehr nett von ihnen."

"Ich bin so froh, dass es den Tieren gut geht. Als ich gemerkt habe, dass meine Diana verschwunden ist, habe ich sie überall gesucht. Ihr müsst wisse, sie büxt gerne aus. Und sie kann sich so gut verstecken, dass sie man sie beinahe nicht mehr findet. Ich habe alle meine Nachbarn gefragt. Doch niemand hat sie gesehen. Nach einigen Tagen habe ich die Suche aufgegeben.“

 

In dem Moment kommt auch Annas Mutter zu ihnen.

"Mama, das ist der Herr Lebes-d-e", stottert Anna. Sie hat sich den fremd klingenden Namen nicht merken können.

"Boris Lebedew", sagt der Mann und schüttelt die Hand ihrer Mama. 

"Hallo, ich bin Jessica Blumenfreund", sagt sie und lächelt ihn an. "Ist das Ihr Kaninchen?"

"Das war es mal", sagt er und schmunzelt. "Jetzt gehört es mitsamt den Jungen den Kindern. Ich bringe es nicht übers Herz, ihnen die Tiere wegzunehmen. Außerdem habe ich noch Kaninchen zuhause und Hunde und Hühner und Enten und sogar zwei Schafe."

"Schafe? Das ist ja toll. Ich liebe Schafe!", sagt Annas Mama.

"Dürfen wir die sehen?", bettelt Anna.

Herr Lebedew lacht und nickt. "Warum nicht? Kommt mich doch besuchen."

Anna strahlt. "Mama, gehst du mit?"

"Natürlich komme ich mit".

"Können wir schon morgen kommen?", will Leonie wissen.

Die Erwachsenen sehen sich an und lachen.

"Von mir aus gern", antwortet Leonies Mama. 

"Fein, dann erwarte ich euch morgen um die Mittagszeit bei mir", sagt Herr Lebedew. Dann bückt er sich hinunter zum Stall und streichelt das Kaninchen, das einmal ihm gehört hat.

"Darf ich euch auch ab und zu besuchen, um meine Diana zu sehen?"

"Stupsi", sagt Leonie streng. Aber dann schämt sie sich gleich ein bisschen, weil sie gar nicht so streng sein wollte. 

 

Anna findet den Mann total nett. Ob die Zahnfee ihren Wunschzettel schon gelesen hat? Vielleicht hat sie den Mann hergeschickt, damit er ihre Mama kennenlernt. Was könnte sie noch tun, damit er sich schnell in sie verliebt?

Zum Glück fällt ihr gleich etwas ein. "Wir könnten morgen doch ein Picknick bei den Tieren machen. Und Mama nimmt einen Apfelkuchen mit." 

"Puh, eigentlich habe ich nicht vorgehabt, einen Kuchen zu backen", antwortet Mama. "Aber wenn du mir mit der Wäsche hilfst, habe ich für den Kuchen Zeit."

"Meine Mama macht den aller-, allerbesten Kuchen von der ganzen Welt", schwärmt Anna. 

Der Mann lächelt Annas Mama an. "Das glaube ich gern", sagt er. 

Da ertönt die Rathausuhr, die man bis in ihre Straße hört. Viermal. Herr Lebedew horcht auf.

"Oh, vier Uhr ist es schon. Ich muss wirklich wieder gehen. Es hat mich gefreut euch kennenzulernen. Stupsi hat sich wirklich eine sehr nette Familie ausgesucht.“

„Stupsie ist deshalb hier, weil ich sie eingeladen habe. Sie ist der Osterhase. Weißt du das nicht?“

„Oh, nein, das wusste ich nicht“, antwortet der Mann verwundert.

Willi verdreht die Augen. "Ist sie nicht!"

Herr Lebedew lacht und winkt ihnen zu. "Tschüß, ihr drei, bis morgen!"

"Tschüüüß!", rufen sie ihm nach, als er Richtung Gartentor geht. 

 

 

Leonie und Anna knien sich wieder zu den Kaninchen und streicheln Stupsi. Die Jungen dürfen sie noch nicht angreifen, erst, wenn sie älter sind. 

"Ich bin so froh, dass wir sie behalten dürfen", sagt Leonie und füttert Stupsi mit einem Löwenzahnblatt. Das Blatt wandert Stückchen für Stücken in Stupsis Mäulchen. Als es verschwunden ist, mag sie nicht mehr beim Kaninchenstall sein, sondern lieber mit den Puppen spielen. Doch ihre Freundin hat jetzt keine Lust zum Spielen. Sie möchte unbedingt nach Hause und ihrer Mama mit der Wäsche helfen, damit die schnell einen Kuchen backt.

 

 

 

 

 

 

 

Zu Hause kümmert sich Anna gleich um die Wäsche. Sie nimmt die trockenen Kleidungsstücke aus dem Trockner und legt sie in den Wäschekorb. Ihre eigenen Socken und T-Shirts bringt sie in ihr Zimmer. Die übrige Wäsche kommt in Mamas Zimmer zum Bügeln. Währenddessen hat ihre Mutter den Kuchen schon ins Backrohr geschoben, und es duftet im ganzen Haus nach Äpfeln und Zimt.

Beim Abendessen ist Anna sehr still. Sie würde gerne wissen, ob ihre Mama den Mann mag. Denn ein bisschen muss sie ihn schon mögen, wenn sie sich verlieben sollen.

"Was ist los, Anna?", fragt Mama. "Hast du ein Problem?"

Annas Gesicht brennt plötzlich so heiß wie Feuer. "Nein, wieso?"

"Du bist so still. Denkst du über etwas nach?"

Anna nickt.

"Womöglich über den Herrn Lebedew?"

"Oh, wieso hat sie das erraten? Kann sie ihre Gedanken lesen?", denkt Anna und fühlt, dass sie rote Wangen bekommt. Das passiert immer, wenn sie nicht die Wahrheit sagen will. 

"Ja, ein bisschen", gibt sie zu. "Magst du ihn?"

"Anna, bist du schon wieder auf Suche nach einem Papa?", antwortet Mama ernst. 

Anna erinnert sich daran, dass sie schon zweimal versucht hat, für Mama einen Mann zu finden. Leider ist das jedes Mal schief gelaufen. 

"Dieses Mal klappt es aber, weil ich einen Wackelzahn habe", sagt Anna. Jetzt kann sie gleich alles verraten, auch die Sache mit dem Wunsch.

"Einen Wackelzahn? Was hat das mit Herrn Lebedew zu tun?"

Anna verdreht die Augen. Ihre Mama versteht ja gar nichts.

"Wenn ein Milchzahn ausfällt, bekommt man von der Zahnfee eine goldene Münze. Aber ich will keine Goldmünze, sondern einen Papa."

Mama schüttelt den Kopf. "Anna!", sagt sie nur.

"Aber du siehst ja, dass es klappt. Ganz schnell sogar. Obwohl mein Zahn noch drin ist. Schau!"

Zum Beweis öffnet sie ihren Mund und wackelt mit dem Zahn wild hin und her. Auf einmal löst er sich, und sie hält das kleine Ding zwischen Daumen und Zeigefinger. Anna starrt erschrocken den Zahn an, auf dem noch ein Tropfen Blut klebt.

"Autsch!", sagt Anna und tastet nach der Zahnlücke. "Das fühlt sich seltsam an."

"Das sieht auch seltsam aus", sagt Mama und kichert. "Jetzt weiß ich auch, warum du heute so viele Äpfel gegessen hast. Du wolltest, dass der Zahn schnell ausfällt."

Anna nickt und legt den Zahn auf ihre Papierserviette. Dann läuft sie ins Bad, um im Spiegel ihre erste Zahnlücke zu betrachten. 

"Wow! Das sieht ja komisch aus." Sie steckt ihre Zunge in das Loch zwischen den Vorderzähnen. "Kann ich da durch spucken?" Das muss sie unbedingt probieren, aber nicht, wenn Mama dabei ist.

Mama grinst immer noch. Sie hält die Serviette in der Hand. „Glaubst du wirklich, dass du für dieses kleine Zähnchen einen Papa bekommst?" 

Anna muss jetzt auch lachen. Plötzlich ist sie nicht mehr sicher, ob das wirklich klappen kann.

"Ich weiß nicht. Ich dachte nur, weil doch Wünsche manchmal in Erfüllung gehen."

"Das stimmt. Manchmal gehen Wünsche in Erfüllung. Aber den Mann, in den ich mich verlieben will, suche ich mir lieber selbst aus. Ist das klar, mein Schatz?"

Anna nickt. "Aber morgen gehst du trotzdem mit, ja?", fragt sie.

"Versprochen. Morgen sehen wir uns die Schafe, Enten und Hühner an."

"Und du siehst die den Herrn Lebe- dingsbums auch an."

"Anna, er heißt Boris Lebedew und hat schon eine Frau und zwei kleine Kinder. Sag das bitte deiner Zahnfee, wenn du sie siehst."

Anna starrt ihre Mama an. "Wieso weißt du das?"

"Nun, weil er es erzählt hat, als wir ihn zur Tür gebracht haben. Du wirst sie morgen kennenlernen."

Anna seufzt. "Schade. Ich glaube, er ist ein netter Papa. Aber, wenn mir die Zahnfee keinen Papa bringen kann, lege ich den Zahn auch nicht unter meinen Polster", sagt sie dann bestimmt. "Was soll ich jetzt damit tun?"

"Warte einen Moment, Anna. Ich glaube, ich habe genau das Richtige für dich“. Mama kramt in einer ihrer Schubladen und hält eine winzig kleine goldene Dose in der Hand.

„Die schenke ich dir, damit du deinen ersten Wackelzahn aufheben kannst, mein Liebling. Und jetzt husch, ab ins Bett mit dir!"

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