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AutorenbildBrigitte Evans

Der Berg ruft!



Eine Geschichte für alle, die gerne Geschichten lesen.



Du stehst am Fuße eines Berges, dessen Gipfel scheinbar in unerreichbarer Ferne liegt. Du denkst an jene, die ihn schon erreicht haben. Sie leuchten beinahe vor Seligkeit und sie schwärmen enthusiastisch von einem vollkommenen Frieden, den sie auf dem Gipfel erfahren durften.


Tief in dir brennt der Wunsch, auch hinauf zu wandern. Eine innere Stimme flüstert dir zu: "Wage es! Gehe hinauf! Hol dir deinen Frieden und deine Glückseligkeit!"

Der Gipfel ist zwar weit entfernt, doch er scheint zu strahlen. Wie eine liebevolle Vogelmutter, die ihre Küken ruft, lockt er dich. Du folgst.


Nun stehst du da, mit gepacktem Rucksack inmitten einer Gruppe Bergsteiger. "Ah!", sagst du. "Ich kenne euch doch. Seid ihr nicht meine inneren Anteile, die auch mit hinauf wollen?"

"Von Wollen kann keine Rede sein!", murrt eine etwas steife, kantige Frau. "Wenn ich die Meisterschaft erreichen will, muss ich da hinauf!" Du stutzt. Ob das die richtige Einstellung ist?

Ein dürrer, kurzsichtiger Kerl meint: "Ich komme mit, aber wenn mir etwas nicht passt, drehe ich wieder um. Ich will nur mal schauen, ob was dran ist an diesen spirituellen Sachen!"

Sie reden alle durcheinander, jeder hat einen anderen Grund, warum er mitgeht.

Die Stimme in dir mahnt, dass du endlich losgehen sollst.

Du setzt die ersten Schritte, bist zuversichtlich. "Na, geht doch!", sagt deine innere Stimme und schwelgt in Erwartung des großen Friedens.


Kaum gestattest du dir, dich mit der inneren Stimme auf deinen Aufstieg zu freuen, beginnt eine Person in deiner Klettergruppe zu meckern.

"Mir tun die Füße weh! Geht das nicht ein bisschen langsamer?" Andere stimmen ein. Sie wollen eine Pause, vermissen ein gutes Essen.


"Der Mensch braucht doch auch Vergnügen!", schreit einer und ist schon dabei umzudrehen.

"Aber deshalb gehen wir doch hinauf!", versuchst du ihn umzustimmen. "Wir suchen mehr als bloßes Vergnügen. Wir suchen die Glückseligkeit!"

Der Typ zuckt mit den Schultern und macht eine abfällige Handbewegung. "Und wer beweist uns, dass sich der Weg lohnt?"

"Hast du nicht gesehen, wie ihre Augen strahlen und wie schön die Leute sind, die den Gipfel erreicht haben?", fragst du und wirst etwas unsicher. Denn eigentlich hast du noch nicht viele kennengelernt, die diesen Berg schon erklommen haben.

"Ach was! Und wie viele von den sogenannten Erleuchteten sind früh gestorben?"

Dir fällt so schnell keine Antwort ein. "Aber nach ihrem Tod haben sie noch jahrelang nach Rosen geduftet! Das ist doch ein Zeichen, dass sie anders waren."

"Pfft!", macht er und stapft weiter den Berg hinunter. "Und was habe ich davon, wenn ich tot bin und dufte? Wenn du keine anderen Argumente hast, gehe ich."

Du überlegst. "Was anderes als inneren Frieden kann ich dir nicht anbieten!", rufst du ihm nach.

"Zu wenig. Tut mir leid!", murmelt er und verschwindet hinter einem Felsvorsprung.

Du siehst ihm nach und zweifelst. Was, wenn er recht hat und es klüger wäre, das ganze Vorhaben abzublasen und heimzugehen?


Doch zum Glück hast du noch andere Kollegen bei dir. Eine stürmische junge Frau boxt dich in die Seite. "Komm! Geh weiter. Das Abenteuer hat doch erst begonnen. Auch wenn wir nicht wissen, was uns da oben erwartet - der Weg ist das Ziel!" Mit diesen Worten schreitet sie munter voran.

Du bist froh über diese aufbauenden Worte und rennst ihr hinterher. "Du hast recht. Erst wenn wir oben sind, wissen wir, ob das Ganze ein Mythos ist oder Wahrheit!"


"Wahrheit? Was faselst du von Wahrheit? Es gibt keine objektive Wahrheit. Wir machen uns unser Leben selbst. Und du betrügst dich gerade mit diesem esoterischem Schwachsinn. Auf einen Berg klettern! Einen Gipfel erstürmen! Erleuchtung erlangen! Mach dir doch das Leben nicht so schwer! Bleib auf dem Boden und schau, was du in deinem Leben für dich herausholen kannst!" Der kleine, etwas behäbige Anteil, der das ruft, schwitzt heftig. Er keucht bei jedem Schritt.

"Du ahnungsloser Materialist!", ruft ihm die leichtfüßige, elfenhafte Person zu, die nicht einmal einen Rucksack mitgenommen hat. "Bleib du halt auf deinem Boden der Realität, wenn du magst. Wir gehen weiter in luftige Höhen!"

Der kleine Behäbige schüttelt den Kopf. "Das könnte dir so passen. Ich will sehen, was dran ist, an diesem Esogerede! Ich komme mit!" Er stemmt sich in die Riemen seines Rucksacks und stapft weiter, den Blick auf den Boden gerichtet. "Nur Felsen, Steine und Geröll. Schöner Weg das!", brummelt er vor sich hin. Aber er hat vor, durchzuhalten. Aufgeben gibt's nicht.

Ab und zu trippelt die Elfenhafte neben ihm her und stupst ihn an. "Schau doch hinauf zu den Wolken! Sind sie nicht wunderbar? Und diese Blumen und die entzückenden Blüten auf dem Moospolster!" Sie flattert von Blume zu Blume und sieht schon selbst aus wie ein Schmetterling.

Der Behäbige versucht sie nicht zu beachten. Doch ab und zu hebt er doch den Kopf und sieht sich um. "Nicht schlecht!", denkt er und lächelt sogar ein wenig vor sich hin.



Du wanderst mit deinen Begleitern weiter, dein Herz auf den Gipfel ausgerichtet. Doch zwischendurch scheint dir dieses Herz ganz tief in die Hose zu fallen. Immer wieder versperren Hindernisse den Weg. Mal liegt da ein umgefallener, von einem Sturm entwurzelter Baumstamm, der dich zwingt umzukehren und einen anderen Weg zu suchen. Dann wieder breitet sich ein Geröllfeld vor dir aus, bei dessen Überquerung du jeden Schritt so vorsichtig setzen musst, dass du glaubst, nicht von der Stelle zu kommen. Und das Schlimmste sind die kahle, grauen Wände, wo dir nichts anderes übrig bleibt, als zu klettern. Du krallst dich mit den Fingern am Stein fest und ziehst dich hoch. Immer wieder gibt es Stellen, an denen dir deine Begleiter helfen müssen. Ihr zieht und hebt und schiebt euch gegenseitig mühsam über die steilen Felskanten.


Ja und dann gibt es Momente, in denen du absolut nicht mehr weiter willst. Alles tut dir weh. Du bist so weit von deinem bisherigen Leben entfernt. Und noch ist kein Ende in Sicht. Du denkst daran, dass der Weg hinunter, viel leichter gehen muss.

Du blickst zum Gipfel hoch - und es kommt dir so vor, als würde er sich höhnisch immer wieder entziehen, hinter Wolken verschwinden, in die Höhe wachsen.

Du kannst kaum mehr den Ärger und den Frust, der sich unter einigen deiner Begleiter einstellt, abwehren. "Sie haben ja recht! Es ist eine blöde Idee, diesen Berg zu besteigen!", denkst du und schießt giftige Gedankenpfeile in Richtung Gipfel und innere Stimme.

Was würdest du dafür geben, wenn dir jemand eine Abkürzung zeigen könnte oder einen Zaubertrick verraten würde, um schneller und leichter oben anzukommen. Du würdest diesen Gott oder was auch immer dich erwarten würde, einfach austricksen.

Die innere Stimme in dir rügt dich und lenkt deine Gedanken wieder auf dein Ziel. "Du suchst Licht und Frieden, nicht Macht oder Kontrolle!", sagt sie mahnend, aber freundlich.


Du brummst und gehst weiter. "Aber eine Wegbeschreibung wäre gut!", murmelst du.

"Oder ein Führer, der mich und deine Gefährten schnurstracks nach oben geleitet!"

Die anderen, die vor dir dort waren, hatten doch solche Führer oder nicht? Wo sind die Engel, die Heiligen, die Geistführer, wenn man sie braucht?


Und irgendwann ist es soweit. Irgendwo auf deinem Weg nach oben siehst du eine Person, die sich auszukennen scheint. Sie hat keine Lust, dich zu begleiten. Aber sie erzählt dir, dass sie selbst schon auf dem Gipfel gestiegen ist. Sie hat ihre Erfahrungen aufgeschrieben. Für dich und alle anderen, die auch hinauf wollen.


Sie drückt dir das Buch in die Hand und begutachtet deine Kollegen. Sie lächelt, denn sie ist damals auch mit einer großen Gruppe losgezogen.

"Wo sind deine Gefährten?", fragst du.

Die Person lächelt. "Sie sind in mir und überall. Ich fühle mich nicht mehr getrennt von ihnen, doch sie verursachen nichts mehr in meinem Leben."

"Typisch esoterisches Kauderwelsch!", mokiert sich der kleine Behäbige wieder. "Redet viel und sagt nichts!"

Die fremde Person, die dir gleich so bekannt und sympathisch vorgekommen ist, lächelt wieder.

"Du musst jetzt noch nicht alles begreifen!", sagt sie mit honigsüßer Miene. "Erst, wenn du ganz oben warst, wirst du alles verstehen!"


Deine Gefährten haben sich niedergelassen und verschnaufen. Die Elfengleiche sitzt zu Füßen der fremden Person und himmelt sie an. Sie würde am liebsten gleich bei ihr bleiben.

"Diese Ausstrahlung! Dieses Wissen! Diese Größe!", haucht sie entzückt.

Die fremde Person lächelt wieder. Es scheint sie alles ein wenig zu amüsieren. Und doch hast du das Gefühl, als nähme sie dich ernst und würde dich bis in die letzte Zelle hinein verstehen.

Das wird dir jetzt ein bisschen peinlich. "Kommt!", treibst du deine Gefährten an. "Gehen wir weiter!"


Während deine Füße Halt auf dem schmalen Weg suchen, liest du, so gut es geht, in dem Buch. Es erzählt von der Schönheit und Kraft dieses Berges, die er großzügig allen Wanderern anbietet, aber auch von seinen kühlen und frostigen Schattenseiten. Es beschreibt leichte und schwierige Wege, Umwege und Wunder, die sich auf dem Weg ergeben können.

Du seufzt und bist froh, dieses Buch in deiner Hand zu haben - obwohl, trotz der Wegbeschreibung wird der Aufstieg nicht viel einfacher. Deine Gefährten motzen, trotzen und jammern mehr denn je. Du überlegst dir ernsthaft, einige von ihnen loszuwerden.


Du erreichst einen Punkt, an dem es dir einfach zu viel wird und berufst eine Versammlung ein. "Hört mir zu! Ich habe diese Jammerei satt. Wer von euch nicht freudevoll und in Erwartung des höchsten Glücks und des inneren Friedens mit mir kommt, kann hierbleiben oder zurückgehen. Ich will ab jetzt kein Jammern und kein Klagen hören und keine leidenden Mienen mehr sehen. Ist das klar?"

Schweigen. Leises Murren. Fragende und verwirrte Blicke. Du bleibst hart.


Einige deiner Gefährten schütteln den Kopf über dich. Sie packen ihre Sachen zusammen und kehren um. Du blickst ihnen ein bisschen traurig nach. Immerhin habt ihr viel Zeit miteinander verbracht. Aber du kannst sie jetzt echt nicht mehr gebrauchen. Leiden kostet einfach zu viel Kraft. Wenn du oben angelangt bist, auf dem Gipfel der Glückseligkeit ist es ohnehin vorbei mit dem Leiden. Also warum es nicht gleich loslassen? Warum sich den Weg mit Jammern und Ärgern, mit Motzen und Widerstand erschweren?

Die innere Stimme lobt dich. "Das hast du gut gemacht. Befreie dich von allem, was dich belastet! Was du jetzt nicht lassen kannst, wird nachher ohnehin von dir fallen. Du wirst sehen, es ist ganz einfach, in Leichtigkeit und Frieden zu leben!"

Du lächelst und spürst diese Sehnsucht nach Schwerelosigkeit, nach Licht und nach Liebe, die alles durchdringt. Deine Blicke schweifen über den Rest der Gruppe. Sie bemühen sich zu lächeln, setzen ein Schönwettergesicht auf, wollen dich nicht verärgern.


"Wir schaffen das!", sagt eine deiner liebsten Gefährtinnen, die mütterlich, sorgende Frau mit den gütigen Augen. "Wir bleiben bei dir und wir erreichen gemeinsam diesen Gipfel!"

Du umarmst sie und freust dich, dass es doch einige sind, die mit dir nach oben streben.


Der Weg geht nun viel einfacher. Ohne die Stimmen aus den hinteren Reihen, die dir den Weg vergällt haben, hast du das Gefühl, einige Kilo leichter zu sein. Warum nicht schweben? Warum nicht fliegen? Wer sagt, dass Menschen nicht schweben und fliegen dürfen?

Du breitest deine Arme aus und singst. Du drehst dich um und blickst liebevoll hinab auf diese Erde, die wie ein Bilderbuch ausgebreitet am Fuße des Berges liegt. Du atmest tief ein und aus und setzt dich einfach auf den nächsten Felsbrocken, der von der Sonne beschienen wird, schließt deine Augen und atmest die reine Luft, das Licht und die ganze Schönheit der Bilderbuchlandschaft ein und aus. "Ich atme das wunderbare Leben ein und ich atme es aus! Ich spüre meinen Atem in mir, die Luft außerhalb von mir. Ich fühle den Atem außen und die Luft innen. Ich fühle das Licht auf meiner Haut und in mir!"


Der Wunsch, den Gipfel zu erreichen ist weg. Gibt es diesen Gipfel wirklich? Oder ist er nur ein Traum? Bist du nicht schon an diesem Punkt angelangt, den deine innere Stimme so ersehnt hat? Wo ist sie überhaupt deine innere Stimme? Wo befindet sich deine Sehnsucht nach Erfüllung? Du horchst in dich hinein, doch du findest nichts. Da ist nichts. Nur Stille. Sanfte Ruhe. Und du bleibst sitzen.

Du öffnest deine Augen und suchst deine Gefährten. Doch da ist nichts. Nur Licht und Frieden und Glückseligkeit. Und du bleibst.




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